21. Kapitel

 

Geigenmusik erfüllte den unterirdischen Vampirclub. Blutgefüllte Kristallgläser wurden erhoben, während eine Blondine den uralten Toast ausbrachte: »Auf die Auserwählten!« Der Vampir neben ihr stellte sich vor.

Patrick schaute gleichgültig zu, wie die beiden mit an Wildheit grenzender Leidenschaft übereinander herfielen. Diese Nacht kam ihm mehr und mehr wie eine Szene aus Shakespeares unheimlicheren Komödien vor. Nichts, aber auch gar nichts, verlief nach Plan. Die Streifwunde an seinem Oberarm brannte, hatte aber bereits zu heilen begonnen. Er verbarg sie unter seinem Mantel. Er hatte keine Lust, noch mehr Fragen zu beantworten.

»Du siehst aus, als bräuchtest du einen Drink.« Ismail ließ sich auf den Stuhl neben Patrick sinken. Er trug die traditionelle Tracht der Osmanen, eine hochgeschlossene jadegrüne Jacke, die das Grün seiner Augen betonte.

»Ich habe deine Nachricht erhalten«, erwiderte Patrick, ohne sich mit irgendwelchen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten. Er war fürchterlich schlechter Laune und wollte nur noch heim. Drei Stunden hatte er bei diesen Schurken herumgestanden, ehe die Polizei erschienen war, und dann hatte er auch noch deren Fragen beantworten müssen. Wie konnten die Menschen Schutz erwarten, wenn sie solche Dummköpfe zu Polizisten machten?

Die Nacht war mittlerweile weit fortgeschritten, und das bedeutete, dass er in ein dunkles, stilles Haus zurückkehren würde, was seine Laune auch nicht gerade besserte. Er hatte so lange gewartet, um Violet in seine Hände zu bekommen - seit sie ihn an jenem Morgen nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht verlassen hatte und zum Zirkus zurückgekehrt war.

»Also, was gibt's so Dringendes?«, fragte er mürrisch.

»Ich will gar nicht erst fragen, was los ist, denn deine Augenbrauen zucken, Highlander. Und das bedeutet, dass du mir lieber den Kopf abreißen würdest, als den Mund aufzumachen.«

Patrick hob eine Braue und nippte an seinem Glas. »Hältst du mich für so blöd, dass ich nicht merke, wie du genau das tust - mich fragen, was los ist? Aber du hast recht, ich habe keine Lust, darüber zu reden. Es ist nichts. Also, was gibt's?«

»Ich muss für ein paar Tage verreisen. Und am Montag kommen noch zwei von meinen Leuten, um bei der Vorstellungszeremonie von Margarets Baby zu helfen.«

Ein weiblicher Vampir legte ihre Hand auf Ismails Schulter, zuckte dann jedoch zurück, als ob sie sich verbrannt hätte. In Vampirclubs wählten die Frauen ihre Partner, eine Regel, die allerdings nicht für Clanoberhäupter galt. Offenbar war das dieser Vampirin soeben wieder eingefallen. Sie senkte beschämt den Blick.

»Entschuldige, Clanführer, ich vergaß mich.«

Sie war wunderschön, wie Patrick feststellte. Aber das änderte nichts. Ismail war auf der Suche nach innerem Frieden, er wollte nichts von Frauen wissen.

»Du wirst Freuden finden in meinen Armen«, sagte er zu der Schönheit und streichelte ihre Wange, »dir wird warm werden, dann heiß, und schneller, als du dir vorstellen kannst, wirst du wieder daraus erwachen. Und dann wirst du dich kalt und einsam fühlen. Wünschst du dir nicht, dass diese Wärme andauert? Dass sie in dein Blut, in dein Herz übergeht? Willst du kalt und allein sein oder warm und geborgen? Ein Ganzes?« Ismail schaute ihr tief in die Augen.

Zu Patricks Überraschung füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie blickte den großen Osmanen an, als hoffte sie, Rettung bei ihm zu finden. »Warm und geborgen«, flüsterte sie hoffnungsvoll.

Ismail lächelte. »Dann ist dein Wunsch schon zur Hälfte erfüllt. Was man sich wirklich wünscht, das bekommt man auch. Vergiss das nie.«

»Das werde ich nicht.« Die Frau starrte ihn noch einen Moment länger an, dann warf sie Patrick einen scheuen Blick zu, verbeugte sich und verschwand.

»Du bist so ziemlich der seltsamste Kerl, den ich kenne«, bemerkte Patrick trocken.

Ismail blickte der Entschwindenden nach und zuckte die Schultern. »Mag sein, aber es war das, was sie brauchte. Also, wo war ich? Ach ja, meine Leute...«

»Ich werde mich um sie kümmern. Wann wirst du wieder zurück sein?«

»Nächste Woche. Ich habe versprochen, zum Ball des Herzogs von Neville wieder da zu sein. Highlander, eine von meinen Leuten heißt Ayse. Ich überlege, ob ich sie zu meiner Nachfolgerin machen soll. Sieh sie dir bitte an, ich wüsste gerne, was du von ihr hältst.«

Patrick zog überrascht die Brauen hoch. Ismail wollte abdanken? Aber dafür war es noch viel zu früh. Ismail war zwar ein wenig älter als Patrick, aber mit seinen sechshundertzehn Jahren konnte er gut und gerne vierzig weitere Jahre Oberhaupt des Südclans bleiben.

»Ismail, ist es nicht ein bisschen früh für solche Erwägungen?«

»Nein, finde ich nicht. Die Prinzessin wird bald ihr Kind zur Welt bringen, Highlander, und ich will das Kind aufwachsen sehen, will in seiner Nähe bleiben. Aber das kann ich nicht, wenn ich weiter Oberhaupt des Südclans bleibe.«

Die sinnliche Musik begann ihre Wirkung auf die angetrunkenen Vampire auszuüben: Obwohl die Nacht noch lang war, wanden sich bereits mehrere weibliche Vampire nackt unter ihren männlichen Partnern. Patrick wusste, dass Ismails Sorge um das Kind nicht ganz unbegründet war. Es gab einige unter ihnen, für die die Auserwählten Fluch und nicht Segen darstellten. Die Tatsache, dass die Vampire ohne die Auserwählten aussterben würden, ignorierten sie. In ihren Augen waren nur reinrassige Vampire etwas wert, ›Wahre Vampire‹, wie sie sie nannten. Sie waren gegen jede Evolution, jede Vermischung und strebten die Weltherrschaft an.

Im Moment hatte diese Gruppierung noch ziemlich wenig Macht und kaum Anhänger, aber Ismail war bekannt for seine weise, vorausschauende Art.

»Ich werde mit dieser Ayse reden«, erklärte Patrick, »aber jetzt gehe ich nach Hause.«

Ismail lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. »Soll das heißen, dass du die sechs Damen, die dich schon seit deiner Ankunft mit den Augen verschlingen, ignorieren willst?«

Patrick warf einen Blick in die angegebene Richtung: Es stimmte, sechs Augenpaare waren gierig auf ihn gerichtet. Wie hatte er sie übersehen können? Er erhob sich.

»Ja, genau das heißt es. Gute Nacht, mein Freund.«

Ismail blickte Patrick mit einer Mischung aus Stolz und Verwunderung hinterher.

Patrick betrat die dunkle Eingangshalle und schlüpfte aus dem Mantel. Er warf einen sehnsüchtigen Blick zur Treppe und ging dann weiter zur Bibliothek. Sie würde sicher schon schlafen. Und nach den Aufregungen des Abends wollte er sie nur ungern wecken... so sehr er es sich auch wünschte.

Auch in der Bibliothek war es dunkel, bis auf das schwache Licht, das durch zwei der hohen Fenster hereinfiel, deren Vorhänge seine Haushälterin zuzuziehen vergessen hatte.

»Du bist wieder da.«

Patrick drehte sich zu der leisen Stimme um, die aus einer Ecke der dunklen Bibliothek kam. Mit seinen scharfen Vampiraugen konnte er sie klar erkennen: Sie saß in einem Sessel und hatte die Beine angezogen. Ihre nackten Zehen lugten unter dem Saum ihres dünnen Nachthemds hervor. Sie wirkte plötzlich sehr verletzlich.

»Was machst du hier?«, entfuhr es ihm. Nicht die Frage, die er eigentlich hatte stellen wollen.

Violet erhob sich und ging auf ihn zu. Das bleiche Licht, das durch die Fenster fiel, erhellte ihr Gesicht.

»Ich konnte nicht schlafen, und dann roch ich dies hier.« Sie wies mit einer Handbewegung auf die Bücherregale. »Noch nie war ich in einem Raum mit so vielen Büchern.«

»Du warst noch nie in einer Bibliothek?« Patrick musste an sich halten, um nicht die Finger in ihrem langen, seidigen schwarzen Haar zu vergraben, das ihr offen bis zu den Hüften herabhing.

»Es erschien mir sinnlos.«

Patrick kam sich wie ein Idiot vor, doch bevor er sich entschuldigen konnte, fuhr sie fort: »Aber ich gestehe, ich wünschte, ich hätte zumindest ein einziges Buch gelesen...«

Das klang so traurig. Patrick trat besorgt näher. »Geht es dir auch gut?«

Sie hob ihr Gesicht zu dem seinen. Ihre grünen Augen schimmerten sanft im Mondlicht. Sie wirkte so zart, so unschuldig. War dies wirklich die Zigeunerin, die weder vor wilden Löwen noch vor bewaffneten Betrunkenen zurückschreckte? Die Frau, die sich erst wenige Stunden zuvor in der Gewalt eines Wegelagerers befunden hatte? Bei diesem Gedanken flammte Zorn in ihm auf, doch ihre nächsten Worte ließen ihn wieder verpuffen.

»Ich bin froh, dass dir nichts geschehen ist.«

Patrick dachte an die Streifwunde an seinem Oberarm, die nach einem Glas Blut vollkommen verheilt war.

»Ein spezielles?«, fragte er.

»Was meinst du?«

»Ich meine, gibt es ein bestimmtes Buch, das du lesen wolltest?«

»Oh.« Er hatte sie aus dem Konzept gebracht, und das gefiel ihm seltsamerweise. »Äh, nein, kein bestimmtes.«

»Also gut.« Patrick trat ans nächste Regal und zog ein in grünes Leder gebundenes Buch heraus. Sie hatte einen schweren Abend hinter sich, redete er sich ein, während er zu ihr zurückging und sich das Haar aus dem Gesicht strich. Das war der Grund, warum er das jetzt für sie tat.

»Setz dich.«

Violet war verwirrt, er bemerkte es an ihrer leichten Anspannung. Es gefiel ihr nicht, wenn sie nicht wusste, was vorging. Im Grunde konnte er es ihr nicht verdenken: Er mochte es genauso wenig.

»Patrick... ich weiß nicht...«

»Wenigstens hast du aufgehört, mich ›Mylord‹ zu nennen. Und jetzt setz dich.«

Sie gehorchte. Patrick lehnte sich ans Fensterbrett und schlug das Buch auf.

»Anna Karenina, von Leo Tolstoi.«

Violets Lippen öffneten sich, aber sie sagte nichts. Patrick begann zu lesen. Sie kuschelte sich in ihren Sessel und schloss die Augen. Wie gebannt lauschte sie der Erzählung.

Auch Patrick ließ sich rasch von dem Roman gefangennehmen. Beide merkten kaum, wie die Sonne aufging.

»Er ging weiter und vermied dabei so lange er konnte, sie anzusehen, als wäre sie die Sonne, und dennoch sah er sie, wie man die Sonne eben sieht, ohne sie ansehen zu müssen...« Er erreichte das Ende des neunten Kapitels und schlug das Buch zu. Violet war so lange still gewesen, dass er nicht sicher war, ob sie eingeschlafen war.

»Danke«, sagte sie leise. Patrick legte verlegen das Buch beiseite.

»Wir sollten zu Bett gehen.«

»Ja.« Aber Violet machte keine Anstalten aufzustehen. Patrick ging mit klopfendem Herzen zu ihr.

Sie wandte das Gesicht zu ihm auf, aber sie lächelte nicht. Die Hände auf die Lehnen gestützt, erhob sie sich. Der Saum ihres Nachthemds streifte seine Stiefelspitzen, ihr Atem strich über seinen Hemdkragen.

Violet legte ihre Hände auf seine Schultern und seufzte.

»Es wäre so viel leichter, wenn du nicht so nett wärst.«

Patrick runzelte die Stirn, aber bevor er fragen konnte, was sie damit meinte, reckte sie sich auf die Zehenspitzen und zog seinen Mund zu sich herab.

Ihre Lippen waren süß und leidenschaftlich, sie entfachten ein Feuer in ihm, dem er nicht widerstehen konnte.

»Komm mit nach oben, Violet.«

»Hmm?«, fragte sie verwirrt. Patrick nahm sie auf seine Arme und trug sie aus der Bibliothek.

Sie barg den Kopf an seiner Schulter und streichelte seinen Hals.

Patrick zählte die Stufen, eins... zwei... drei... Violet ließ ihre Hand sinken. Acht... neun... zehn... Als er oben angekommen war, wusste Patrick, dass die Frau in seinen Armen fest eingeschlafen war.

Er legte sie sanft auf seinem Himmelbett ab und breitete die Decke über sie.

Violet murmelte etwas Unverständliches, rollte sich auf die Seite und zog die Knie an. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen.

Was war es nur, das ihn so zu dieser Frau hinzog? Ihre Verletzlichkeit? Ihre Stärke? Oder das Geheimnisvolle, das sie umgab?

 

Unsterblichen 02 -Unsterblich wie ein Kuss-neu-ok-27.01.12
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